DG Coaching & Beratung
Journal für persönliche Entwicklung
Die verborgene Melodie des Selbst: Wer wären wir ohne die Narben unserer Kindheit?
Oft betrachten wir unsere Persönlichkeit als ein festes Gefüge von Eigenschaften, die uns seit Anbeginn auszeichnen. Doch belastetende Lebensumstände in den frühen Kindheits- und Jugendjahren formen sich zu einer manchmal langfristigen Anpassungsreaktion aus, die wir nicht mit unserer ursprünglichen Persönlichkeit verwechseln sollten. Dieser Artikel regt die Reflexion über die Frage an, wer wir ohne diese prägenden Erfahrungen wären und wie wir uns unserem ursprünglichen Selbst und Potenzial wieder annähern können.
4/2025 Von: D. V. Günter
→ DG Audio-Journal: Hier lese ich Ihnen diesen Artikel vor
Die frühe Prägung: Anpassung als Überlebensstrategie
Stellen Sie sich vor, ein Leben beginnt – vergleichsweise rein, unverstellt. Und dann treten Umstände ein, die zarte Wurzeln in eine bestimmte Richtung zwingen. Im Erwachsenenalter verstehen wir, dass belastende und schwierige Lebensereignisse unsere Anpassung erfordern und wir Strategien entwickeln müssen, um diese zu bewältigen.
Nun, genau das geschieht auch in unseren allerersten Lebensjahren, als Säuglinge und Kleinkinder. Wir formen uns, reagieren auf das, was um uns ist. Wären wir nicht ganz andere Menschen geworden, hätten uns nicht bestimmte Lasten, einschneidende Erlebnisse oder tiefe Verletzungen durch jene, die uns nahe waren, oder durch das Schicksal selbst, getroffen?
Auch als winzige Wesen mussten wir uns einrichten, unbewusst, Eigenschaften ausbilden, automatisch Wege finden, um in einer Situation, die Leib und/oder Seele bedrohte, zu bestehen.
Oft vergessen wir dabei, dass wenn diese Momente der Gefahr, der Krise, des Mangels an dem, was wir zum Gedeihen brauchten, nicht vereinzelt blieben, sondern uns vielleicht jahre- oder jahrzehntelang begleiteten, unser ganzes Aufwachsen prägten – dass dann Eigenschaften an uns haften, die nicht unser ureigenes Wesen widerspiegeln.
War da wirklich immer schon diese Neigung zur Kontrolle oder zur Vorsicht, zur Ängstlichkeit, zur Wut oder Hysterie? Oder musste sie sich entwickeln als Antwort auf ein Umfeld, das uns nicht genügend Sicherheit gab oder unsere berechtigten Kindheits-Bedürfnisse nicht verstand?
Die Frage nach dem ursprünglichen Selbst
Die Frage, die sich dann wie ein leiser Ton in unser Bewusstsein schleicht, lautet: Wer wäre ich geworden, wer war ich ursprünglich, bevor ich mich – um bei dem Beispiel zu bleiben – an ein oder mehrere nicht funktionale Elternteile beziehungsweise Caretaker anpassen musste? Bevor ich also eine Anpassungsreaktion auf eine Belastung zeigte, um möglichst gut in diesem Milieu zu bestehen oder gar zu überleben?
Im Erwachsenenleben leuchtet dieser Zusammenhang oft klarer ein: Denken Sie an einen Mann und seine Frau, die an einem sonnigen Tag einen Motorradausflug genießen, voller Harmonie und ohne jede Vorahnung. Und dann, in einer Kurve, versagt eine Reaktion, ein Unglück geschieht, und der Mann verliert sein Leben. Die Frau, die alles mitansehen muss, ist von diesem Moment an eine andere. Trauer, Niedergeschlagenheit, der Wunsch, sich zurückzuziehen, Angst – ihre ganze Wesensart scheint sich zu wandeln. Hier ist es offensichtlich: Die Reaktion auf dieses schreckliche Ereignis hat Eigenschaften hervorgebracht, die unmittelbar mit dem belastenden Ereignis verbunden sind. Hoffen wir, dass sie ihren Weg zurück zu der Lebensfreude findet, die sie zuvor ausmachte.
Kindheitserfahrungen und ihre verborgenen Auswirkungen
Doch wie steht es mit uns, deren frühe Jahre von Erfahrungen geprägt waren, die wir vielleicht als normal empfanden, weil unser junges Verständnis der Welt noch zu begrenzt war? Wir wussten nicht, dass es auch anders oder besser sein könnte und hatten keine Möglichkeit uns von den Pfählen loszumachen an die die Kindheit uns anbindet. Und so reagierten wir, veränderten unsere Eigenheiten als Antwort auf das, was uns belastete.
Können wir uns noch erinnern, wie wir davor waren? An die ursprüngliche Melodie unseres Selbst, bevor die Dissonanzen einsetzten?
Wie tief reicht unsere Erinnerung? Bis in die Zeit im Mutterleib? Heute wissen wir, dass schon dort, über die Nabelschnur und die Botenstoffe, eine Verbindung zum emotionalen Erleben der Mutter besteht. Ein ungeborenes Kind spürt, ahnt, in welches Klima es hineingeboren wird, welche Anpassungen, welche Überlebensstrategien nötig sein könnten.
Die Reise zurück zum Ursprung
Wir alle sind auf irgendeine Weise mit den ungelösten Themen unserer Kindheit verbunden. Insofern lasst uns erinnern. Wer waren wir im Kern, wenn das überhaupt noch greifbar ist? Wer wären wir vielleicht geworden, wenn die Anfänge unseres Lebens von mehr Freiheit und Unbeschwertheit geprägt gewesen wären, wenn wir unserer Natur gemäß hätten wachsen können?
Es lohnt sich, diesen Gedanken nachzugehen, darüber zu sinnieren. Denn die Geschichte, die wir uns über unser eigenes Leben erzählen, darüber, wer wir sind, hat einen tiefgreifenden Einfluss auf unsere Gefühle und bestimmt damit den Verlauf dieser kausalen Kette und Wechselwirkung: Gedanken erzeugen Gefühle, Gefühle führen zu Worten und Handlungen, und diese wiederum formen unser Leben.
So lasst uns zum Ursprung zurückkehren und uns fragen:
- Was ist die wahre, die ursprüngliche Geschichte meines Lebens?
- Welche meiner Eigenschaften sind nicht angeboren, sondern durch Anpassung entstanden?
- Wer bin ich wirklich, wer wäre ich wirklich geworden?
Vielleicht finden wir Antworten in der Stille der Meditation, im Traum, in der Weite der Natur, in den stillen Momenten mit uns selbst. Oder auch in der Hypnose, im Hypno-Coaching, in der Hypnotherapie – Orte, an denen Erinnerungen, auch die frühesten wieder zugänglich werden können und darauf warten, wiederentdeckt zu werden, wenn wir uns dafür öffnen.
Autorin:
Daniela V. Günter, Journalistin, Systemische Coachin, Integrative Psychologische Beraterin (www.daniela-guenter-coaching.com | 04/25).
→ DG Audio-Journal: Hier lese ich Ihnen diesen Artikel vor